«Die Krise von 2020 hat einige grundlegende Trends verstärkt und beschleunigt.»

Seit sieben Jahren liefert die Deloitte Swiss Watch Industry Study jährlich nützliche Einblicke in die Entwicklung der Uhrenindustrie. Sie basiert auf einer Onlineumfrage und Interviews, die mit 55 Führungskräften der Uhrenbranche geführt werden. Ergänzt wird sie durch eine Onlinebefragung von 5’800 Verbrauchern in China, Frankreich, Deutschland, Hongkong, Italien, Japan, Singapur, der Schweiz, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Grossbritannien und den Vereinigten Staaten. Einer der Autoren, Jules Boudrand, Financial Advisory Director und Leiter des Uhrensektors bei Deloitte, hat bereitwillig unsere Fragen beantwortet. 

Wie werden Ihrer Expertise nach Marken, die im Einstiegs- oder Mittelklassesegment positioniert sind, sich von dieser Krise erholen können, die sie besonders hart trifft? Sind sie die direkten Opfer des Erfolgs der Smartwatch?

Die Quarzuhren, aber auch in einem geringeren Masse die mechanischen Uhren der Einstiegs- und der Mittelklasse, haben schon vor der Krise gelitten. Die Pandemie hat gewisse Trends lediglich verstärkt, darunter die stetig zunehmende Fokussierung der Branche auf die mechanischen Uhren der Spitzenklasse. Seit einigen Jahren erleben wir auch eine wachsende Konzentration des Wachstums in unserem Sektor auf ein paar grosse Marken und Konzerne sowie ein paar kleine oder grosse unabhängige Marken, die sich von den anderen unterscheiden. Das Einstiegssegment ist besonders vom Erfolg der Smartwatches betroffen, und dieser Trend dürfte sich fortsetzen.

Besteht nicht die Gefahr, dass die schwindende Marktpräsenz der Uhrenhersteller für das Einstiegssegment mittel- bis langfristig der Innovationsfähigkeit des Luxussegments schadet? Ohne B-Liga gibt es ja keine A-Liga, somit besteht doch das Risiko, dass Zulieferer mit hoher Innovationsfähigkeit wegen mangelnder Auslastung verschwinden.

Das ist in der Tat ein Risiko, dass die Branche mehr und mehr beunruhigt. Die jährliche Produktion von Quarzuhren in der Schweizer Uhrenindustrie ist seit 2011 um 10 Millionen Stück zurückgegangen, und dieser Rückgang hat sich 2020 noch einmal verstärkt. Auch bei der Produktion von mechanischen Uhren der Einstiegs- und Mittelklasse ist ein Rückgang zu verzeichnen, auch wenn dieser weniger stark ausfällt. Mehr als 60 % der in unserer Studie befragten Manager sehen diesen Rückgang als eine Bedrohung an. Nach der Quarzkrise zu Beginn der 1980er Jahre hat die Branche sich durch die Produktion grosser Stückzahlen von Einstiegs- und Mittelklasse-Quarzuhren wieder aufgebaut, was eine solide Grundlage für die Entwicklung des mechanischen Uhrensegments schuf und das Tor für die Luxusindustrie öffnete. Wenn der Abwärtstrend weiter anhält, könnte dies die Branche schwächen, zum Verlust von Arbeitsplätzen und Know-how führen und die Innovation unweigerlich hemmen.

Worauf müssen sich die Uhrenzulieferer in diesem heiklen Umfeld für das Jahr 2021 einstellen?

Selbst wenn für 2021 ein Aufschwung zu erwarten ist, wird sein Tempo weitgehend von Dauer und Ausmass der neuen, seit Januar geltenden Einschränkungen wie auch vom Fortschritt der weltweiten Impfkampagne abhängen. Das Wachstum der Branche dürfte sich jedoch weiterhin auf führende Marken stützen, ganz gleich ob sie unabhängig sind oder zu Konzernen gehören, und hauptsächlich von den mechanischen Uhren der oberen Preisklasse getragen werden. Zulieferer, die für die grossen Marken oder an spezifischen Komponenten im Hochpreissegment arbeiten, haben sich in den letzten Jahren generell besser geschlagen als jene, die für Marken arbeiten, die grössere Volumen produzieren und im Einstiegs- oder Mittelsegment tätig sind. Diese Zulieferer sind mit solideren Bilanzen in die Coronakrise gegangen, und obwohl auch sie einen Tätigkeitsrückgang zu verzeichnen hatten, hat die Pandemie sie am schwächsten getroffen, und sie dürften am meisten von einem Aufschwung in 2021 profitieren. Die Marken im Einstiegs- und Mittelklassesegment, die höhere Volumen produzieren und schon ein schwieriges Jahr 2019 hatten, wurden am schwersten von der Krise getroffen. Die Lieferanten, die mit diesen Marken arbeiten, sind mit schwächeren Liquiditätsreserven in die Pandemie gegangen und verfügten nur über einen kleinen Spielraum zur Bewältigung dieser schwierigen Zeit. Diese Lieferanten könnten in den kommenden Monaten auch weiterhin unter den Auswirkungen der Pandemie leiden.

Wird die Rettung von der Innovationsfähigkeit der Zulieferer oder von den Herstellern kommen?

Die Branche befindet sich in einer Phase des beschleunigten Wandels, die geprägt ist von anspruchsvolleren und gut informierten Verbrauchern, aber auch einer neuen Generation mit anderen Konsummustern. Die Verbraucher suchen bei den Marken persönliche, authentische und stimmige Einkaufserlebnisse sowohl online wie auch in den Geschäften. Sie suchen auch zunehmend personalisierbare Produkte, und die Nachhaltigkeit wird zu einem bedeutenden Faktor. Es wird für die Marken wichtig sein, sich weiterhin an diese neuen Trends anzupassen, und die Zulieferer werden auch eine wichtige Rolle sowohl bei der Werkstoffinnovation wie auch bei der Anpassung an den Trend hin zur häufigeren Produkterneuerung und zu personalisierbaren Produkten spielen.

Wird der Druck der Marken auf ihre Lieferanten, nachhaltigere und besser rückverfolgbare Produkte herzustellen, zunehmen? Welche Bereiche sind hier besonders betroffen?

In der Mode- und Luxusgüterbranche im Allgemeinen beobachten wir eine immer schnellere Entwicklung hin zu mehr Nachhaltigkeit: Designer und Juweliere legen Wert auf umweltfreundliche Materialien und Upcycling. Die Verbraucher berücksichtigen zunehmend die Ökolabels einer Marke, um eine bewusste Kaufentscheidung zu treffen. Dieser Trend dürfte sich noch verstärken, ein gleiches gilt für die Ansprüche der Marken an ihre Lieferanten. Besonders betroffen ist die Rückverfolgbarkeit der Materialien, um eine verantwortungsbewusste Beschaffung bei Edelmetallen, Edelsteinen usw. zu gewährleisten, die Suche nach Alternativen zu Erzeugnissen tierischen Ursprungs, Materialien aus biologischem Anbau, sowie recycelte oder upcycelte Materialien.

Worauf beziehen Sie sich, wenn Sie im Schlussteil Ihrer Studie sagen, dass die Verbraucher eher Qualität als Quantität bevorzugen?

Wir beziehen uns hier auf das allgemeine Verhalten der Verbraucher, die zunehmend dazu neigen, Qualitätserzeugnisse, lokale und handwerkliche Produktion zu bevorzugen und Know-how höher wertzuschätzen. Qualität, Tradition und Nachhaltigkeit sollten daher für die Uhrenmarken Schlüsselelemente ihrer Kommunikation und ihres Vertriebs bleiben.

Betrifft das Wachstum des Gebrauchtmarktes nur das Spitzensegment für Uhren? Wird der Second-Hand-Markt von den Marken oder den einzelnen Besitzern beherrscht? Welche Auswirkungen hat das auf die mittelfristige Produktion? Entsteht hier ein neuer Markt für die Hersteller und ein spürbarer Verlust für die Zulieferer?

Das Wachstum des Gebrauchtmarktes kommt vor allem von mechanischen Uhren der Spitzenklasse und von Marken, die auch beim Verkauf neuer Uhren ganz oben stehen. Aber auch das Einstiegs- und Mittelklassesegment ist präsent und dürfte sich hier ebenfalls entwickeln. Die Marken sind dem Second-Hand-Markt lange ferngeblieben. In den vergangenen drei Jahren haben grosse Konzerne und Marken, aber auch Händler begonnen, in dieses wichtige und potenziell lukrative Segment vorzudringen, wobei sie verschiedene Wege beschritten. Sie lancierten ihre eigene, zertifizierte Second-Hand-Linie («CPO»), kauften aber auch Fachhändler für gebrauchte Uhren oder schlossen Partnerschaften mit ihnen. Hierbei verfolgen die grossen Konzerne ein doppeltes Ziel: Sie wollen sich einen Anteil an diesem wachsenden Markt sichern, um die Effekte der Branchenzyklen abzufangen und die Verkäufe neuer Uhren durch Eintauschprogramme zu steigern. Diese Strategie, die in der Autoindustrie schon seit langem praktiziert wird, könnte dazu beitragen, zusätzliche Verkäufe von neuen Uhren auszulösen, wenn sie richtig eingesetzt wird, und Marken und Zulieferern so weiteres Wachstum ermöglichen.

Geht die Entwicklung des Marktes für vernetzte Uhren zu Lasten der traditionellen Uhrmacherei und der mechanischen Uhren? Glauben Sie, dass eine schöne mechanische Uhr immer noch attraktiv auf junge Leute wirkt?

Unter dieser Konkurrenz haben hauptsächlich die Quarzuhren gelitten. Die Smartwatches werden von unserer Branche weiterhin als Gefahr betrachtet, doch hängt dies von der Preiskategorie ab. Für Unternehmen, die nur Uhren der Spitzenklasse herstellen oder verkaufen, stellen die Smartwatches eher eine geringe Sorge dar. In unserer Umfrage unter Verbrauchern von 11 Ländern haben wir die Teilnehmer gefragt, welche Uhr sie am liebsten kaufen würden, wenn sie sich bei einem Budget von CHF 5’000 zwischen einer neuen Luxusuhr und während zehn Jahren der jährlich neuen Version einer Smartwatch entscheiden könnten. Die Mehrheit der Befragten entschied sich für die Luxusuhr, ein Ergebnis, das auch für die Generationen Y und Z gilt (die Jahrgänge von 1981 bis 1996 und ab 1997). Ein ermutigendes Zeichen dafür, dass eine schöne mechanische Uhr immer noch Anziehungskraft auf die Jugend ausübt.

Sie scheinen überzeugt zu sein, dass die Schweizer Uhrenindustrie sich anpassen und erholen wird: Was macht Sie so optimistisch und unter welchen Bedingungen wird die Erholung möglich sein?

Die einzigartige Position der Schweizer Uhrenindustrie, ihre Innovationsfähigkeit und ihr aussergewöhnliches Markenimage in Verbindung mit der Verwurzelung ihrer Hauptakteure in der Tradition haben es ihr ermöglicht, trotz wechselnder Marktbedingungen und der verschiedenen Krisen zu bestehen. Der Übergang zu E-Commerce und Vertriebskanälen in den sozialen Netzwerken, aber auch die Anpassung an neue Konsummuster und Kundenwünsche werden auch in den kommenden Jahren zentrale Aspekte sein. Die Erholung der Branche ist auch durch externe Faktoren bedingt und wird stark von der Dauer und dem Ausmass der seit Januar geltenden neuen Beschränkungen und dem Tempo abhängen, mit dem die weltweite Impfkampagne vorankommt, die eine Wiederbelebung des weltweiten Absatzes ermöglichen sollte.

Hat die Krise des Jahres 2020 letztendlich also nur den unvermeidlichen Wandel der Schweizer Uhrenindustrie beschleunigt?

 

Die Krise in 2020 hat in der Tat dazu geführt, dass bestimmte grundlegende Tendenzen wie die Konzentration des Branchenwachstums auf bestimmte Marken und hochwertige mechanische Uhren, aber auch der Übergang zur Digitalisierung oder die Neuausrichtung auf die Kundenbedürfnisse verstärkt bzw. beschleunigt wurden.

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