Mangels eines ausreichend starken Heimmarktes haben sich die Schweizer Uhrenindustrie und noch mehr ihre Zulieferer von Anfang an internationalen Absatzmärkten zugewandt. An die Stelle der Königshäuser traten die Handelsdynastien!
Dies begründet die grosse Stärke der Uhrenindustrie, denn man denkt «Schweiz», sobald man «Uhr» denkt – nur wenige Gegenstände lassen sich so eindeutig einem bestimmten Gebiet zuordnen. Aber hier liegt auch ihre Verletzlichkeit, denn sie hängt per Definition von der Gesundheit ihrer wichtigsten Absatzmärkte ab.
So erklärt sich zum grossen Teil die zyklische Funktionsweise der Branche. Und wenn ein Absatzmarkt wegbricht, gilt es, mit einer gehörigen Portion Geschick einen gleichwertigen, wenn nicht besseren zu finden. Während der Pandemiekrise wurde das Ausbleiben der asiatischen Kundschaft, welche die Branche getragen hatte, weitgehend durch den Zustrom neuer «lokaler» Kunden kompensiert, wenn nicht sogar übertroffen, insbesondere in den Vereinigten Staaten, aber auch in Europa oder dem Nahen Osten. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch die Liquiditätsspritzen der Zentralbanken, die Suche nach alternativen Anlageformen, die Stärke der Kryptowährungen, die Aussicht auf langfristige Wertsteigerungen der Uhrensammlungen und andere Faktoren.
Die jetzige Lage ist komplexer, da China seinen früheren Platz noch nicht wieder eingenommen hat wie von den Luxusanalysten erhofft, während die USA, die als formidabler Wirtschaftsmotor für die Schweizer Uhrenindustrie wirken, sich stabilisieren. Indien bleibt ein Versprechen, das es zu erfüllen gilt. Und angesichts dieser fehlenden Perspektive stehen die Zulieferer ohne die Aufträge da, die sie eingeplant hatten, als das Angebot hinter der Nachfrage zurückblieb. Das ewige Dilemma der Anpassung des Schweizer Produktionsapparates … wie soll man gelassen und langfristig Kapazitäten aufbauen, wenn alles plötzlich zum Stillstand kommen kann?
Wie wir kürzlich schrieben, ist der kurze Zeithorizont der Uhrmacher und Labors der lange Zeithorizont der Börse. Wird es uns eines Tages gelingen, dieses Problem des Zeitmassstabes zu lösen?
Glücklicherweise kommt die Innovation bei den wendigsten Akteuren (Hersteller und Zulieferer) nicht vollständig zum Erliegen, da man weiss, dass sie der Garant für einen erfolgreichen Wiederaufschwung ist. In gewissem Masse kann die geschwächte Dominanz des Neo-Vintage-Stils der letzten Jahren auf eine Rückkehr der neuen Materialien, der Grundlagenforschung, der Komplikationen hindeuten – kurzum auf alles, was die Blüte der Schweizer Uhrenindustrie insbesondere in den 2000er Jahren ausmachte, einem Jahrzehnt der kreativen Explosion, das an seinem Ende aber auch durch eine schwere Krise geprägt war.
Eine weitere grundlegende Herausforderung für die Zukunft ist die Sicherung ausreichender Produktionsmengen für die Schweizer Industrie, auch wenn diese sich weitgehend an die Vorherrschaft des Premiumsegments angepasst hat (Wichtigkeit der Endbearbeitung, Fähigkeit zur Kleinserienproduktion). Einige Akteure, die in den letzten Jahren auf der Bühne erschienen sind, haben auch hier mit grosser Agilität bewiesen, dass man mit erschwinglicheren Angeboten sein Publikum finden kann. Schliesslich funktioniert die Schweizer Industrie als Ökosystem, das unaufhörlich neue Marktteilnehmer hervorbringt, denen man auch mit Kreationen unterhalb des vier- oder fünfstelligen Bereichs Träume anbieten muss.
Wenn wir schlussendlich speziell über die Zulieferer sprechen, so war ein Schlüsselbegriff der letzten Jahre der Versuch der Diversifikation hin zu neuen Branchen wie der Medizintechnik. Das bleibt eine grosse Herausforderung, denn die dort gängigen Normen und Praktiken haben oft nichts mit jenen der Uhrenindustrie gemeinsam. Trotzdem ist der Dialog zwischen diesen beiden Welten wichtig, um die Auswirkungen der Wirtschaftszyklen zu dämpfen.
Inmitten all dieser unternehmerischen Herausforderungen ist es wichtiger denn je, Präsenz zu zeigen. Diesen Rat gebe ich allen Akteuren, denen ich begegne, seien es Hersteller oder Zulieferer. Weit entfernt von Excel-Tabellen sind die Chancen mehr denn je menschlicher Art in einer Industrie, die immer weniger, aber immer besser produziert, indem sie die manuellen Fertigkeiten des Menschen in den Vordergrund stellt …
Serge Maillard, Herausgeber, Europa Star