Zulieferer oder Akteure des Kerngeschäfts?

Worte entfalten Wirkung. Seit mehr als vierzig Jahren spricht man im Jargon der Uhrenbranche von Zulieferern, um die Lieferanten zu bezeichnen. Es ist höchste Zeit, vom Kerngeschäft und von Professionelles Umfeld anstatt von Zulieferern zu sprechen.

Joël A. Grandjean

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Uhrmacherei seit der Überwindung der Quarzkrise unaufhörlich veredelt, zumindest was ihr Vokabular betrifft.

Von der kleinen Hand zum goldenen Finger

So wurden die kleinen Hände zu goldenen Fingern, Motoren zu Kalibern, Zusatzfunktionen zu Komplikationen. Dann wurden aus Fabriken Manufakturen, obwohl der Anteil der Handarbeit an der Produktion rapide schrumpft und die Vertikalisierung der Arbeitsabläufe eher als Synonym für Fliessbandarbeit gelten darf. Zu guter Letzt verlieh man der handwerklichen Geschicklichkeit den Titel Métiers d’art.

In einer Zeit, in der die Industrialisierung in vollem Gange ist und die Industrie hin zur Produktion immer grösserer Mengen strebt, orientiert sich die Sprache des Marketings immer mehr an Luxus und Ländlichkeit und schafft so Heere von Uhrenliebhabern, denn idyllische Bilder von bäuerlichen Uhrenfarmen und von Lupen, die Uhrmacher sich ins Auge klemmen, sind weitaus sexyer als das fette Öl von Fräsarbeiten oder die schwarzen Finger der Polierer. Selbst die Eltern der heutigen Zeit neigen dazu, sich gegenüber dem wiedererwachten Interesse ihrer Kinder an den Uhrmacherberufen aufgeschlossen zu zeigen. Es ist noch gar nicht so lange her, da hielt man seine Kinder davon ab, einen solchen Beruf zu ergreifen, und wenn man doch zustimmte, lag das oft daran, dass die Ausbildung weniger kostete.

Vom Schatten zum Licht

Wer mit der sanften Betriebsamkeit der Gänge an der EPHJ Fachmesse vertraut ist, weiss es: Immer mehr Enthusiasten, aufgeklärte Amateure und vor allem Sammler kommen ins Genfer Palexpo, um als allererste das Privileg zu geniessen, einen Blick hinter den Vorhang zu werfen. Hier entdeckt man dann eine technische Fertigkeit, da eine praktische Info oder gar eine unvergleichliche Emotion. Das Phänomen ist nicht mehr zu übersehen. Die Traumwelt, die die Marken geschaffen haben, hat sich um ein Flair von Backstage bereichert, das für die Uhrmacherei das ist, was die Jamsessions für das Montreux Jazzfestival sind.

Die Messe ist zu einem Fest branchenübergreifender Geselligkeit geworden, wo sich die Stars der Medien, meist die Hersteller und ihre Führungskräfte, unter das betriebsame, vielfältige, zielstrebige und innovationsfreudige Publikum mischen: Talente, die im Schatten stehen und Diskretion, Dienstbereitschaft, Liebe zum Metier und Leidenschaft für Erfindungsgeist pflegen. In diesem geheimnisvollen Milieu – die EPHJ bleibt rund 20’000 Fachleuten vorbehalten – findet man den wahren Grund für die Brillanz der Hersteller und ihrer Endprodukte. Vincent Daveau, Uhrmacher von Beruf und anerkannter Journalist, erklärt es so: «Die EPHJ ist die einzige Messe, die mit Intelligenz in die Zukunft der Uhrmacherei blickt.»

Eine kulturelle Dimension

Die höchste Weihe kommt von der UNESCO, die das Savoir-faire des Uhrmacherhandwerks und der Kunstmechanik in ihre Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen hat. Nach einem 18-monatigen Verfahren fand am 16. Dezember 2020 das Schmieröl Zutritt in das Pantheon des universellen Wissens. Aber der eigentliche Sieg geschah innerhalb der Landesgrenzen: Zum ersten Mal in der Schweizer Geschichte gewinnt die Uhrmacherei eine kulturelle und nicht nur eine wirtschaftliche oder exportwirtschaftliche Dimension, was auch dadurch belegt wird, dass die Kandidatur bei der UNESCO vom Bundesamt für Kultur eingereicht wurde. Es war auch an der Zeit! Geographisch betrachtet wurde hier auch der Jurabogen und sein Terroir anerkannt, ein mehrheitlich französischsprachiger Korridor, der nun nicht mehr durch seine Steilhänge begrenzt wird, sondern sich ganz auf seine internationale Ausstrahlung besinnen kann.

Die Uhrmacherei als Lokomotive

Die andere Besonderheit der Uhrmacherei liegt in ihrer Rolle als Vorreiter, ihrem Bestreben zu verschönern und bei anderen Branchen Anleihen zu machen. Sie ist in erster Linie, zumindest hier in der Schweiz, eine zuverlässige und robuste Lokomotive auf dem neuesten Stand der Technik, an die die Waggons der Hochpräzisionstechnik einfach angekoppelt werden können. Die Sektoren, auf denen die anderen Mikrotechnologien eine Rolle spielen, sind vor allem Automobilindustrie, Raumfahrt, Verbindungstechnik und natürlich die Medizintechnik, auf die die EPHJ schon fast seit ihrer Gründung setzt.

Zu ihrer Fähigkeit der Verschönerung gehört auch, dass die Uhrmacherei anderen, zuweilen weniger angesehenen Branchen ermöglicht, ihre Anziehungskraft und ihr Begehrtsein zu steigern. Jedes Unternehmen, das auf einem anderen Gebiet tätig ist und paar Uhrenteile in seine Auftragsbücher eintragen kann, erhöht sein Prestige. Alle der insgesamt mehr als 800 Aussteller – rund 90 % sind KMU – gehen von einem Stand zum anderen, wobei sie sich natürlich am Verwandtheitsgrad ihrer Tätigkeiten orientieren, sowohl was den Maschinenpark wie auch die vielseitigen Talente des jeweiligen Unternehmens angeht. Und so finden innovative Verfahren wie auch unbedeutend erscheinende Verbesserungen den Weg zu anderen Anwendungsgebieten, denen sie sich anpassen.

Wechselseitige Transfers

Wie beim bidirektionalen Rotor, dem Uhrmacherbauteil, welches das Aufziehen einer Automatikuhr ermöglicht, indem es die Bewegungen des Uhrträgers in Energie umwandelt, erfolgt auch der Technologietransfer in beide Richtungen. Die Uhrmacherei ist also auch ein Leihnehmer, und sei es nur auf dem Gebiet der Werkstoffe, wo sie, die ja nur geringe Mengen benötigt, nicht zögert, die Fortschritte und Entdeckungen aus anderen Bereichen zu übernehmen und an ihre Bedürfnisse anzupassen. Auf dem Marktplatz für Werkstoffe deckt die Uhrmacherei sich regelmässig ein.

So kommt beispielsweise das Roségold, das als Inbegriff des guten Geschmacks gilt, aus der Zahnmedizin. Es gibt zahlreiche Beispiele, sie säumen die zeitgenössische Geschichte der Uhrenindustrie, die mörderische Krisen überlebt hat – Krisen, die sie leichter überstanden hätte, wenn die Unternehmen durch weitere Absatzmärkte lebenswichtige Entlastung erfahren hätten. Dies zu bewerkstelligen war stets ein Anliegen der Uhrmacher, wie es der Unternehmer Luc Tissot verkörpert, der schon 1978 als erster die MedTech in den Jurabogen brachte, nachdem er ein Stockwerk seiner Manufaktur in Le Locle in ein Produktionszentrum für Herzschrittmacher umgewandelt hatte.

Luc Tissot, Verkörperung des Zusammenspiels von Uhrmacherei und Medizintechnik

«Die Gründung von Precimed und seine Zusammenarbeit mit der Uhrenmanufaktur gibt ein gutes Beispiel für „shared value“ zwischen den zwei Unternehmen Tissot und Precimed (Anm. d. Red.: Hoffman La Roche und Luc Tissot waren gemeinsam Gesellschafter). So ist auf der Grundlage eines über Jahrzehnte von der Uhrenmanufaktur angesammelten Know-hows eine ganze Reihe neuer Produkte entstanden», erläutert der Industriekapitän, der über den gerade erfolgten Erwerb der Marke Milus zu seinen Wurzeln zurückgekehrt ist und mit seiner Stiftung weitere Erfolge zu verzeichnen hat. Wie zum Beispiel das Abenteuer der Gründung von Medos, aus dem 1983 J&J wurde: Man entwickelte ein programmierbares Hydrocephalus-Ventil, mit dessen Hilfe sich die erneute Operation eines Patienten vermeiden lässt, wenn es darum geht, den Druck in seinem Gehirn zu verändern, um Demenz zu verhindern. Hierbei waren die Kompetenzen aus der Uhrmacherei natürlich von Vorteil.

Zu erwähnen wäre auch ein 2010 begonnenes Projekt, das soeben mit einer Weltpremiere nach acht Jahren Entwicklung abgeschlossen wurde: Eine schottische Universität, die ein Patent zur fortlaufenden Messung des Augeninnendrucks hinterlegt hatte, um die Drucksprünge zu erkennen, die den Sehnerv zerstören und durch Glaukom zur Blindheit führen, wandte sich an den Uhrenhersteller, der daraufhin an der Entwicklung einer intelligenten Linse teilnimmt (Foto oben). Das Glaukom ist weltweit die zweite Ursache für Erblindung.

Vor kurzem verkündete die Acrotec-Gruppe mitten in der Coronakrise und kurz vor dem Wechsel ihres Investors an einer Pressekonferenz in Cortaillod, dass man den Schock dank der Diversifizierung der rund zwanzig Unternehmen besonders gut überstanden habe. Und der Konzern ist nicht der einzige. Durchstreift man die Gefilde der Kooperationen zwischen den Unternehmen des Uhrensektors wie auch die Spalten dieses Newsletters, findet man zahlreiche Beispiele von Uhrenfirmen, die in der jetzigen Pandemie auf andere Sektoren vordringen konnten. In La Chaux-de-Fonds zum Beispiel gelang es Julien Bouchet, durch die Investition von AB Concept in eine 3D-Maschine der neuesten Generation Kunden unter anderem aus der Automobilindustrie gewinnen.

Die Normen, ein Muss

Der rege Austausch zwischen Unternehmen des Uhrensektors und Medtech-Akteuren stösst jedoch auf ein paar starke, wenn auch nicht unüberwindliche Hindernisse: Normen, Materialien, Verfahren einschliesslich Verpackungsprozessen. Anstrengungen sind hier vonnöten, und sie müssen erbracht werden. Wenn das zweihundertjährige Unternehmen Pierhor-Gasser nach zwei Jahren Bemühungen bekanntgibt, dass man die Zertifizierung ISO 13485 erhalten hat, ein Gütesiegel, das auf den anspruchsvollen Kriterien von Qualitäts- und Sicherheitsmanagementsystemen für Komponenten medizinischer Geräte beruht, dann ist das eine höchst motivierende Botschaft der Hoffnung für die Zukunft der Unternehmen.

Diese Botschaft kursiert übrigens schon in den Gängen der EPHJ, seit die grösste jährliche Fachveranstaltung der Schweiz beschlossen hat, ihre Standflächen für die Medtech zu öffnen. Das gleiche gilt, seitdem sie gemeinsam mit der Inartis Stiftung jährlich ihren Preis Challenge Watch Medtech Innovation vergibt, der als Impulsgeber repräsentativ für die Beschleunigung dieser wertvollen Transfers ist.

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